Gastbeitrag von Anja Rahn, Ph. D.
Wissenschaftler sind darauf trainiert, objektiv, sachlich, diszipliniert und emotionslos zu kommunizieren, denn wir arbeiten mit unseren Kollegen seit Beginn des wissenschaftlichen Arbeitens über die gesamte Geschichte hinweg an einem unvollendeten Roman, in dem jedes Forschungsprojekt und jeder Zeitschriftenartikel darauf abzielt, diesem Werk einen einzigen Satz hinzuzufügen. Um sich in diesen Handlungssträngen auszudrücken, greifen Wissenschaftler auf ihre Vorstellungskraft zurück und wirken dabei oft exzentrisch. Es ist dieser zwanglose, kreative Prozess, in dem die Wissenschaft der Kunst ähnelt. Die Geschichte, die sich hinter dem Kaffeearoma verbirgt, ist eine Erzählung, über die ich seit langem nachdenke.
Das Kaffeearoma ist zweifellos der wichtigste Bestandteil von Kaffee. 1969 wies Maxwell Mozell [1] nach, dass Kaffee ohne diese ätherische und daher flüchtige Komponente nicht identifiziert werden kann, wenn man sich nur auf den Geschmack verlässt. Damit unterstrich er die Bedeutung der flüchtigen Bestandteile von Kaffee. Um den unverwechselbaren Charakter von Kaffee zu verstehen, muss man daher das Kaffeearoma und seine zugrunde liegende Chemie verstehen. Die Aromachemie ist komplex, aber nicht komplexer als eine musikalische Komposition oder Kunst in einer Galerie. Dieser Artikel soll die Eleganz der komplexen Aromachemie von Kaffee aufzeigen, indem er Parallelen zur Kunst im weiteren Sinne zieht.
Das Kunstwerk
Anders als bei Kunst, die in einer Galerie hängt, wo jeder das Gemälde sehen kann, oder bei Musik, die als Komposition gehört, aufgenommen und transkribiert werden kann, mussten erst Methoden entwickelt werden, um ein Aroma zu beobachten und wahrzunehmen. Ursprünglich konnten diese Methoden – Gaschromatographie (GC) in Verbindung mit einem Massenspektrometer (MS) oder einem Flammenionisationsdetektor (FID) – flüchtige Stoffe über einem Kaffeeprodukt nachweisen, aber nicht zwischen ihrem Vorhandensein und ihrer sensorischen Bedeutung unterscheiden. Das bedeutet, dass es zwar Tausende von Verbindungen gibt, die in Kaffeeprodukten nachgewiesen wurden, aber nur wenige zum Aroma beitragen [2,3]. Das ist so, als wüsste man, dass ein Musikstück aus Noten besteht oder dass ein Gemälde Farben enthält, aber man weiß nicht, welche.
Um unterscheiden zu können zwischen Verbindungen, die in Kaffee vorhanden sind, und solchen, die auch wahrnehmbar und geruchsaktiv sind, wurde die GC-Olfaktometrie entwickelt, bei der die Nase des Menschen der Detektor ist. Mit dieser Methode konnte die umfangreiche Liste der vielen Verbindungen [4-8] gekürzt werden, und gleichzeitig stellte man fest, dass es Verbindungen gibt, die in Kaffee wahrnehmbar sind, aber nicht nachgewiesen werden konnten. Das reduziert die möglichen Noten und Farbpaletten auf die, die in der Komposition und im Gemälde tatsächlich verwendet sind.
Wissenschaftliche Instrumente haben wie die menschlichen Sinne Bereiche, innerhalb derer sie gut funktionieren. Diese Grenzen werden bei wissenschaftlichen Instrumenten empirisch mit Begriffen wie Nachweisgrenze (LOD) und Bestimmungsgrenze (LOQ) und bei menschlichen Sinnen als Bereiche beschrieben, z. B. bei der menschlichen Hör- (20 Hz – 20 kHz) und Sehschärfe (380-720 nm). Die Spannbreite eines Geruches bleibt unbestimmt, da der biologische Mechanismus nach wie vor unbekannt ist, was die Entwicklung künstlicher Sensoren und die Standardisierung der Bewertung beim Menschen erschwert.
Auch wenn wir in einem Kunst- oder Musikwerk eine breite Palette von Farben sehen und viele Töne hören können, so ist doch nur eine Auswahl davon nötig, um ein Objekt, z. B. einen Baum in einem Gemälde oder eine Melodie in einem Musikstück, wie Beethovens fünfte Symphonie, zu identifizieren. Dies ist auch beim Kaffeearoma der Fall: es gibt viele geruchsaktive Verbindungen in Kaffee, aber nur eine Handvoll ist nötig, damit wir etwas als Kaffee erkennen.
Um herauszufinden, welche Aromen das unverwechselbare Profil von Kaffee ausmachen, wurden Auslassungsstudien durchgeführt. Bei diesen Studien wurde das Kaffeearoma mit allen geruchsaktiven Verbindungen (der Kontrolle) nachgebildet, und dann wurden systematisch Gruppen von Verbindungen weggelassen. Dabei wurde beobachtet, ob sich diese neuen Mischungen von der Kontrolle unterscheiden. Dies ist vergleichbar mit der Verwendung visueller oder akustischer Software, um Farben oder Noten aus einem Werk zu entfernen und zu sehen, ob es erkennbar bleibt.
Es reicht nicht aus, nur die Kernbestandteile einer Melodie, eines Gemäldes oder eines Duftes zu identifizieren, da viele Kunstwerke die gleichen Noten, Farben oder Verbindungen enthalten. Geruchsaktive Verbindungen, die in Kaffee vorkommen, sind auch in Produkten mit ganz anderen Aromaprofilen enthalten, z. B. in Nüssen und Rindfleisch. Was ein Kunstwerk von einem anderen unterscheidet, ist die Menge der verwendeten Komponenten und ihre Anordnung.
So könnte man z.B. einen strahlenden Sonnentag mit der gleichen Farbpalette malen, mit der man einen dunklen, von einer Kerze beleuchteten Raum malt. Jedes große Kunstwerk besteht darin, die richtigen Tasten zur richtigen Zeit zu drücken, um eine Weisheit von Johann Sebastian Bach zu paraphrasieren.
Die Künstler
Das Bach-Zitat hebt nicht nur die Noten und ihre Anordnung hervor, sondern vermittelt auch die Bedeutung der Interpretation. Diese Interpretation wird vom Musiker oder Künstler eingebracht und reicht von der Veränderung von Nuancen innerhalb eines Werkes bis hin zum völligen Wechsel des Mediums, z. B. von digital zu Orchester oder von Ölgemälde zu Mosaik.
Bei Kaffee sind die am häufigsten anzutreffenden Interpreten die Röster. Röstmeister sind eigentlich wie Dirigenten eines Orchesters, bei dem jede Instrumentengruppe einen Reaktionsweg darstellt. Die Aufgabe des Dirigenten besteht nicht nur darin, das Musikstück zu präsentieren, sondern auch dafür zu sorgen, dass es harmonisch zugeht, wenn zwei Instrumentengruppen gleichzeitig spielen. Nehmen wir an, die Flöte spielt mit dem Schlagzeug. Die Aufgabe des Dirigenten besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Harmonie zwischen den Gruppen gewahrt bleibt und das Schlagzeug den Beitrag der Flöten nicht übertönt. Das ist nicht anders als beim Rösten, wo ein Gleichgewicht zwischen den zarten Aromen, die durch die Maillard-Reaktion entstehen, und den fortgeschrittenen Reaktionen im Röstprozess, die zu den Röstaromen und zum Körper des Kaffees letztlich in der Tasse beitragen, gesucht wird.
Damit der Röster feststellen kann, ob das Aromaprofil wie gewünscht ist, muss er in der Lage sein, die Kaffeequalität zu beurteilen. Die sensorische Qualität von Kaffee wird zunächst von Rohkaffeehändlern bestimmt. Handelshäuser sind im Wesentlichen Auktionshäuser und haben die Aufgabe, die Kaffeequalität zu bestimmen, um einen fairen Marktpreis festzulegen. Der Kauf von teuren Bohnen ist daher nicht anders als die Verpflichtung eines teuren Musikers oder Künstlers, bei dem man eine gesicherte Qualität erwarten kann. Umgekehrt bedeutet eine niedrigere Bohnenqualität nicht zwangsläufig ein minderwertiges Produkt: Es gibt Röstereien, die die vorhandenen Eigenschaften zu nutzen wissen, um ein höherwertiges Produkt zu erzeugen. Das Potenzial einer vermeintlichen Low Level-Bohne auszuweiten bleibt also möglich, da Qualität subjektiv ist und teilweise nach dem Rösten bewertet wird, wodurch eine Voreingenommenheit des Rösters eines Handelshauses umgangen werden kann.
Dieser Punkt ist nach wie vor umstritten, da der Preis für Rohkaffee als Indikator für die Löhne der Landwirte angesehen werden kann, was ein lösungsbedürftiges Problem darstellt. Darüber hinaus sollte erwähnt werden, dass das Rösten fehlerhafter Bohnen, z. B. saurer oder unterreifer Bohnen, dem Dirigieren eines Orchesters von Musikern mit kaputten Instrumenten gleichkommt, was nicht ratsam ist, wenn man ein in sich harmonisches Produkt liefern will.
Auch wenn eine Voreingenommenheit des Rösters derzeit unvermeidlich ist, sollten die Bemühungen des Coffee Quality Institute, Vokabular, Standards und Protokolle durch ihre Arabica (Q)- und Robusta (R)-Grading-Zertifizierungen auf eine einheitliche Basis zu bringen, gewürdigt werden. Die Bewertung von Kaffee auf diese Weise ist vergleichbar mit einem Schulbesuch einer Kunstgalerie oder eines Konzerts, bei dem man den Schülern Methoden beibringt, wie sie die Kunst, die sie vor sich sehen, bewusst wahrnehmen können, wie sie ihre Wahrnehmungen kommunizieren und wie sie einen Transfer zu anderen Bereichen leisten können [9].
Die Zuordnung von Aromen zu verschiedenen Produkten ist ein erlernter Beurteilungsprozess, den sich die meisten Menschen passiv aneignen; man lernt, was eine Orange ist, und dann, wie sie riecht, wenn man sie schält und isst. Manche Köche kultivieren aktiv einen Wiedererkennungswert für jede Zutat, der es ihnen ermöglicht, Rezepte nach der Verkostung des Gerichts neu zu kreieren. Aromachemiker ähneln in dieser Hinsicht den Köchen, aber anstatt die Lebensmittel in ihre Bestandteile zu zerlegen, trennen Aromachemiker die Aromen in ihre chemischen Komponenten und die damit verbundenen Stoffwechselwege. Das ist vergleichbar mit dem Erkennen von Instrumenten anhand ihrer Klangfarbe in einem Musikstück oder der Fähigkeit, Farben in einem Kunstwerk zu identifizieren. Ähnlich wie die Farbe Grün ist auch das Kaffeearoma ein Gemisch, das seine eigene Identität hat, z. B. denken wir beim Anblick von Gras nicht an “blau und gelb”, sondern an “grün”. Die Identifizierung der wichtigsten chemischen Komponenten durch die chemische Analyse, wie bereits erwähnt, ist vergleichbar mit der Definition von Grün als eine Mischung aus Blau und Gelb, die einem Aromachemiker nahelegt, welche Reaktionswege für diese Mischung entscheidend sind.
Zugegeben: den Mix der verschiedenen Reaktionswege nachzuvollziehen, die zum unverwechselbaren Aroma von Kaffee führen, ist nicht das Ziel, das bei allen ganz oben steht. Aromenhersteller können das Kaffeearoma auf der Grundlage des aktuellen Wissensstands problemlos in einer beliebigen Anzahl von Variationen für den größeren Markt nachbilden. Ein Aroma aus einer chemischen Rezeptur nachzubilden, ist jedoch wie Musik ohne die Klangfarbe der Instrumente: einige bevorzugen sie, andere nicht.
Die Klassifizierung der chemischen Kernbestandteile des Kaffees nach ihren chemischen Strukturen ist vergleichbar mit der Einteilung von Klängen in ihre Orchestergruppen nach ihrer Klangfarbe: nussige Pyrazine (Holzbläser), würzige Thiole (Blechbläser), fruchtig-süße Carbonyle/Furanone (Streicher) und erdige Phenole (Schlagzeuger). Die Kategorisierung der möglichen Aromastoffe ist vergleichbar mit der Identifizierung der Orchestergruppe, zu der eine Klangfarbe gehört. Thiole und Pyrazine sind gut definierte Beispiele für Produkte der Maillard-Reaktion, einer Wechselwirkung zwischen Proteinen und Kohlenhydraten, bei der entweder Schwefel oder Stickstoff in die Molekularstruktur des Aromas eingebaut wird. Bei der Maillard-Reaktion werden die Temperaturen, bei denen Kohlenhydrate abgebaut werden, gesenkt, wobei neben Thiolen und Pyrazinen auch Carbonylgruppen und Furanone durch Umgehung der Karamellisierung entstehen.
Phenole entstehen nicht durch die Maillard-Reaktion, sondern eher durch den Abbau von Chlorogensäuren und Carotinoiden. Diese Wege werden als “direkt” angesehen, da die Vorstufen in Modellmischungen unabhängig voneinander in ähnlicher Weise abgebaut werden wie beim Rösten des eigentlichen Produkts, sodass eine gewisse Vorhersagbarkeit zwischen der Zusammensetzung von Roh- und Röstkaffee gegeben ist. Dies ist vergleichbar mit dem Hören von Musik, in der man eine Trommel erkennt und feststellt, dass die Trommel Teil des Orchesters war und dass beim Spielen der Trommel die Klangfarbe reproduziert wird.
Das Fehlen einer solchen Vorhersagbarkeit bei der chemischen Maillard-Reaktion von Kaffee könnte für die wesentliche Wissenslücke verantwortlich sein, die derzeit zwischen der Qualität von grünem und geröstetem Kaffee besteht. Grüner Kaffee verhält sich wie der Embryo der Musik im Kopf des Komponisten. Eine solche Verständnislücke befeuert die Fantasie eines Aromachemikers, ähnlich wie atemberaubende Kunst oder Musik Emotionen hervorruft und zum Nachdenken anregt.
Bildnachweis: Anja Rahn, Adobe, Envato
Quellen:
1. Mozell M.M., Smith B.P., Smith P.E., Sullivan R.L. Jr., and Swender P. (1969). Nasal chemoreception in flavor identification. Arch Otolaryngol. 90: 367-373.
2. Dart S.K., and Nursten H.E. (1985) Volatile Components. In: Clarke R.J., Macrae R. (eds) Coffee. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-009-4948-5_7
3. Mahmud, MMC, Shellie, RA, and Keast, R. (2020). Unravelling the relationship between aroma compounds and consumer acceptance: Coffee as an example. Compr Rev Food Sci Food Saf. 19: 2380– 2420. https://doi.org/10.1111/1541-4337.12595
4. Semmelroch P. and Grosch W. (1995). Analysis of Roasted Coffee Powders and Brews by Gas Chromatography-Olfactometry of Headspace Samples. Lebensm.-Wiss. u.-Technol. 28: 310-313.
5. Mayer F., Czerny M. and Grosch W. (2000). Sensory study of the character impact aroma compounds of a coffee beverage. Eur. Food Res. Technol. 211: 272-276.
6. Czerny M., Mayer F. and Grosch W. (1999). Sensory Study on the Character Impact Odorants of Roasted Arabica Coffee. J. Agric. Food Chem. 47: 695-699.
7. Semmelroch P., Laskawy G., Blank I. and Grosch W. (1995). Determination of Potent Odourants in Roasted Coffee by Isotope Dilution Assays. Flavour Fragr. J. 10: 1-7.
8. Semmelroch, P. and Grosch W. (1996). Studies on Character Impact Odorants of Coffee Brews. J. Agric. Food Chem. 44: 537-543.
9. World Coffee Research (2017). Sensory Lexicon. World Coffee Research. 20170622_WCR_Sensory_Lexicon_2-0.pdf (worldcoffeeresearch.org)