Wenn eine gute Nachbarschaft die beste Krankenversicherung ist
Sind wir krank, läuft das meistens so: wir zücken unser Krankenkärtchen und dann wird in die Wege geleitet, was wir brauchen. Was aber, wenn diese Versorgung nicht selbstverständlich ist? Wenn man bis zum nächsten Arzt drei Stunden braucht? Und wenn die beste Krankenversicherung das gute Verhältnis zu den Nachbarn ist? Gesundheitsversorgung läuft in Kaffeeländern nicht wie bei uns. Kaffee-Manager Michael Scherff und Farmerin Maria del Carmen gaben uns Einblicke, wie Gesundheit auf einer peruanischen Farm gelebt wird. Kleiner Spoiler: es ist anders.
Gerade ist er in Deutschland, und wir können telefonieren ohne Zeitverschiebung. Der Deutsche Michael Scherff hat eine On-Off-Beziehung mit seinen zwei Wahlheimat-Orten. Zwei Drittel des Jahres verbringt er in Peru, das andere in Deutschland. Genauer gesagt in Miguel Grau, einem Dorf am Fuße der Anden. Als Manager der von ihm mitgegründeten Kaffeemarke Pacha Mama betreut Michael Scherff die Erzeugergemeinschaft des Dorfes. Mal indem er Rat gibt, mal indem er sich einen Pflückkorb umgürtet und bei der Ernte hilft. Er kennt die Menschen dort, das Leben vor Ort. Und er weiß, wie es läuft, wenn es mal nicht so rund läuft mit der Gesundheit.
Wie man Menschen mitten im Regenwald versorgt
Bevor Michael Scherff unsere Fragen beantwortet, erklärt er, wie das Gesundheitssystem in Peru aufgebaut ist. Dann verstehe man die Dinge besser, sagt er. Es gibt dort ein staatliches Gesundheitssystem, das aufgeteilt ist in ein gesetzliches und in eins für die gesamte Bevölkerung. Die gesetzliche Versorgung greift nur für jene, die legal arbeiten. Im Fall von Miguel Grau sind das alle Angestellten in der Erzeugergemeinschaft, sonst im Dorf ist das niemand. Der Kassenbeitrag beläuft sich auf umgerechnet etwa zehn Euro im Monat, nochmal zehn, wenn man die Familie mitversichert. Deshalb sind die Leistungen verbunden mit Zuzahlungen.
Nichtzahler fallen nicht gänzlich durch das Raster, sie bekommen Hilfe in akuten Fällen, ansonsten ist die Versicherung noch eingeschränkter als für arbeitende Menschen.
Wer sich besser absichern will, zahlt in ein privates Kassensystem. Das können sich aber nur wenige leisten. Laut Michael Scherff gibt es in Peru vielleicht 300.000 Familien mit privater Absicherung, leben sie in Lima, haben sie eine Versorgung vergleichbar mit deutschen Verhältnissen. Verglichen damit wie es sonst läuft, sei das „einzigartiger Luxus“.
„Es ist alles knapp“, beschreibt der Kaffee-Manager die Lage. „Es zahlen nicht viele ein ins System. Das bedeutet, dass die ohnehin wenigen Ärzte und Geräte für alle reichen müssen.“
Was man der abstrakten Konzeptnatur eines Gesundheitssystems nicht entnehmen kann: es gibt viele Gegenden, die so abgelegen sind, dass sich eine Versorgung schwierig gestaltet. Wie in Miguel Grau. Das Dorf liegt mitten im Regenwald und sieht anders aus, als wir uns ein Dorf vorstellen. Die Häuser bieten nicht Gelegenheit, dem Nachbarn auf den Frühstücksteller zu schauen. In Miguel Grau verteilen sie sich über ein weitläufiges Gebiet, teilweise liegen mehrere Kilometer zwischen ihnen. Die Straßen, das sind ungeteerte und z.T. unbefestigte Wege. An Krankenwagen ist da nicht zu denken. „Wer Hilfe vom Arzt braucht, muss ins Auto steigen und mindestens eine gute halbe Stunde fahren“, sagt Michael Scherff. In Poste, so heißt der Ort, ist tagsüber ein Arzt anwesend. Wer eine Krankenstation mit Bett braucht, muss 45 Minuten weiter fahren nach Yurinaki, da gibt es sogar ein Kinderkrankenhaus. Und die Teerstraße fängt dort an, dann wird es einfacher.
Bei akuten Fällen: die Erstversorgung im Dorf, dann muss man weiter
Nicht jeder hat ein Auto und der Weg ist nicht der nächste. Folglich sind Menschen wie Blanca Fundes Gold wert. „Sie ist die Gesundheitsexpertin in Miguel Grau“, so der Kaffee-Manager. Als ehemalige Krankenschwester ist sie in der Erzeugergemeinschaft erste Anlaufstelle für alle möglichen Fälle: Fieber, Verletzungen aller Art, Infektionen etc. In schlecht erreichbaren Gegenden setzt der Staat auf Menschen mit medizinischem Background. Sie sind kalkulierter Teil des Gesundheitssystems. Blanca Fundes bekommt daher eine bestimmte Ausrüstung zur Verfügung gestellt, um Kranke und Verletzte zu versorgen. Sie darf sogar impfen, für extreme Fälle bekommt sie Spritzen mit Antibiotika zur Verfügung gestellt. Sie darf sogar impfen. Bei extremen Fällen kann sie auf Spritzen mit Antibiotika zurückgreifen. Leute wie Blanca Fundes sind umso wichtiger, wenn nachts ein Notfall auftritt. Die nächste Notaufnahme liegt in Pichanaki. Das sind anderthalb Stunden Autofahrt. Akute Fälle wie Brüche, schwere Infektionen etc. leitet sie immer weiter, zumindest aber kann sie eine Erstversorgung vor diesem Weg leisten.
Dass es durchaus auch mal länger als anderthalb Stunden dauern kann, hat Michael Scherff selbst schon erlebt. Einmal hatte sich Pacco Fundes, Farmer der Erzeugergemeinschaft, das Schlüsselbein gebrochen. Michael Scherff brachte ihn mit seinem Auto in die Notaufnahme. „Die Straßen hier sind für einen Krankentransport nicht wirklich gut. Wir mussten langsam fahren, das Humpeln über die Dellen war ziemlich schmerzhaft für Pacco. Wir brauchten drei Stunden“, erinnert er sich.
„Das Bewusstsein für die Gemeinschaft ist stark, die Bereitschaft sich gegenseitig zu helfen ist enorm.“
Ist es zu vermeiden, spart man sich also diesen Weg. Wenn er aber zu fahren ist, sei die Gemeinschaft zur Stelle. „In akuten Notfällen springen hier alle in die Bresche“, sagt Michael Scherff. Wäre er nicht da gewesen, um Pacco in die Notaufnahme zu bringen, hätte sich mindestens eine Handvoll anderer gefunden. „Das Bewusstsein für die Gemeinschaft ist stark, die Bereitschaft sich gegenseitig zu helfen ist enorm“, beschreibt der Kaffee-Manager, was er in Miguel Grau seit vielen Jahren erlebt.
Das gelte für die kleineren Dinge wie für Schicksalsschläge. Wer ernsthaft krank ist und weitere Behandlungen braucht, muss in die Hauptstadt Lima. So wie Michael Scherff es einmal bei einem Kind in der Gemeinschaft erlebte, das an Krebs erkrankte. Das Kind musste nach Lima. Diagnose sowie das Erstellen einer Therapie und Behandlung werden in solchen Fällen übernommen. Für die Medikamente muss man jedoch selbst aufkommen – auch Einzahler. „Das läuft dann so, dass die Leute vom Arzt im Krankenhaus ein Rezept bekommen, mit dem sie in die hauseigene Apotheke gehen müssen. Dort erfahren sie, wie viel sie zahlen müssen. In diesen Apotheken weinen die Leute regelmäßig, weil die Kosten einfach so hoch sind“, berichtet Michael Scherff. Als die Gemeinschaft von Miguel Grau davon erfuhr, passierte, was immer passiere: alle legten zusammen, damit die Eltern die Medikamente für ihr krankes Kind bezahlen konnten. „Auch wenn niemand große Reichtümer besitzt – die Gemeinschaft hilft immer. Hier kommt keiner drauf, das nicht zu tun.“
Wenn der mobile Zahnarzt kommt
Das sind die schweren Fälle. Für gewöhnlich sehen Arztbesuche anders aus. Wenn z.B. die mobilen Zahnärzte kommen, direkt ins Dorf. Das passiert etwa einmal im Jahr. Dann wird die Schule, die direkt am zentralen Dorfplatz liegt, in eine behelfsmäßige Praxis umfunktioniert. Die Zahnärzte sind eingeschränkt in ihren Möglichkeiten. Wurzelbehandlungen oder Dinge, die weitere Sitzungen oder spezielle Geräte bräuchten, gibt es nicht. „Wenn was fehlt, wird der Zahn einfach gezogen“, berichtet Michael Scherff, meistens bleibt es aber bei einer schlichten Zahnreinigung. Die kann jeder in der Dorfgemeinschaft bekommen, der möchte. Kostenlos. „Das ist ein Service, den die Zahnärzte von sich aus anbieten. Sie machen das, weil sie motiviert sind zu helfen“, sagt Michael Scherff.
Damit sind diese Zahnärzte mit ihrer Hilfsbereitschaft wie Blanca Fundes offensichtlich kalkulierter Teil des Gesundheitssystems.
Der Zahnarztbesuch ist eine der vielen Vorsorgeuntersuchungen, die wir in Deutschland als Selbstverständlichkeit in Anspruch nehmen. „Überhaupt gibt es das Konzept von Vorsorgeuntersuchungen in Peru nicht. Man geht zum Arzt, wenn einem was fehlt, sonst nicht“, erklärt Michael Scherff. Mit zwei Ausnahmen: kostenlose Schuluntersuchungen gehören zur Pflicht, und auch Schwangere dürfen kostenlos Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen. Letzteres Angebot stemmt allerdings nicht das Gesundheitssystem, sondern die Erzeugergemeinschaft. Das ist eine Auflage, die sie in ihrer Satzung formuliert hat. Demnach dürfen Schwangere eine Praxis für eine Kontrolle aufsuchen, dazu kommt die Gemeinschaft für sämtliche Kinderimpfungen auf.
Als wir fragen, wie es um die Unterstützung durch Hebammen bestellt ist, entschuldigt sich Michael Scherff für einen Moment. Er wolle jemanden holen, der dazu besser Auskunft geben könne. Ein kurzes Rumpeln, der Hörer ist abgelegt. Wir hören, wie er einen Raum weiter mit einer Frau spricht. Schritte nähern sich, wieder ein kurzes Rumpeln am Hörer und eine Frauenstimme meldet sich. Es ist Maria del Carmen. Sie ist mit Michael Scherff verheiratet. Die Peruanerin ist in Miguel Grau aufgewachsen und besitzt dort auch eine Farm. Mit leichtem Akzent berichtet sie, wie das Kinderkriegen auf dem peruanischen Land geht. Sie erzählt uns, dass es keinen Anspruch auf die Dienstleistung von Hebammen gibt. So etwas kennt man dort auch nicht. Stattdessen ist es wieder die Gemeinschaft, die hilft. „Schwangere vertrauen auf den Rat und die Erfahrungen der älteren Frauen“, erklärt sie. „Manche Frauen fahren mittlerweile auch ins Krankenhaus, um zu entbinden. Die meisten aber bringen ihre Kinder zuhause zur Welt, mit dem Beistand von Frauen aus Familie und Nachbarschaft.“ Gerade der humpeligen Straßen wegen, und manchmal gehe es einfach zu schnell, um noch ins Krankenhaus zu fahren, sagt sie. „Das ist für die Leute in Dörfern wie Miguel Grau normal, man kennt es eigentlich nicht anders.“
Die Natur als Apotheke: „Die Leute wissen sich sehr gut selbst zu helfen.“
Überhaupt sei die Einstellung zu medizinischer Versorgung eine andere. „Die Menschen haben nicht das Gefühl, gleich einen Arzt zu brauchen“, beobachten beide. Vielleicht sei das auch der Tatsache geschuldet, dass nicht zehn Praxen ums Eck bequem erreichbar sind. „Die Leute wissen sich bei den meisten Sachen sehr gut selbst zu helfen.“ Ihre große Apotheke sind ihre Huertos, die Gärten. Kaum ein Haushalt ohne. Dort bauen die Dorfbewohner verschiedenste Kräuter an, die sie sowohl als Kochzutaten als auch als natürliche Arzneien verwenden. „Das Wissen über die Wirkung von Pflanzen ist ganz stark ausgeprägt, jeder weiß was drüber“, sagt Maria del Carmen. „Die Menschen leben in Dörfern noch weit mehr mit der Natur zusammen. Selbst kleine Kinder wissen schon, von welchem Kraut sie zupfen müssen, um z.B. eine Schürfwunde am Knie selbst zu versorgen, und welche sie besser nicht pflücken oder gar naschen.“
Eine Stunde später verabschieden wir uns. Und jetzt wissen wir: das Gesundheitssystem in Peru ist unzulänglich. Es baut zu einem großen Teil auf Menschen, die sich aktiv in das System der Gesundheitsversorgung einbringen. Seien es Menschen wie Blanca Fundes mit dem Hintergrund einer medizinischen Ausbildung. Seien es motivierte Ärzte, die aus Überzeugung heraus helfen. Seien es die Menschen selbst, die sich gegenseitig unterstützen und sich mit dem allgegenwärtigen Wissen um Kräuterheilkunde selbst helfen. „Die Menschen machen das Beste daraus“, sagt Michael Scherff. „Die Gemeinschaft wächst natürlich auch durch die gemeinsame Arbeit zusammen und den engen persönlichen Kontakt. Allein schon das macht solche Gemeinschaften deutlich lebendiger, als ich es aus Deutschland kenne. So ist es auch bei der Gesundheitsversorgung. Die Leute helfen sich, sie wissen, dass sie sich aufeinander verlassen können, ganz besonders in Notsituationen. Alle nehmen Anteil. Das macht die Gemeinschaft stark, das schweißt zusammen.“
Maria del Carmen stimmt ihm zu.
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Bildnachweis: Murnauer Kaffeerösterei GmbH